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Leere Versprechungen: TikTok und die Bundestagswahl

TikTok scheitert beim Eindämmen von Fehlinformationen

Marcus Bösch
Mozilla

Geschrieben von Marcus Bösch und Mozilla

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Zusammenfassung

TikTok ist eine der am schnellsten wachsenden Social-Media-Plattformen der Welt. In Deutschland nutzen nach Angaben des Betreibers rund 11 Millionen Menschen TikTok. Politische Parteien und Politiker*innen haben in den Wochen vor der Bundestagswahl Accounts angelegt, darunter fünf der sieben im Bundestag vertretenen Fraktionen. TikTok hat im Vorfeld der Wahl Maßnahmen beschlossen, um die Sicherstellung glaubwürdiger Informationen zu gewährleisten. Im Zeitraum Juli und August haben wir – aufbauend auf unseren vorangegangenen Untersuchungen im Kontext von Wahlwerbung auf TikTok – untersucht, ob und wie TikTok seine Versprechen gehalten hat. Unser Ergebnis: Die Bemühungen waren leider nicht von Erfolg gekrönt, in einigen Fällen warten wir weiter auf eine angemessene Umsetzung.

Unsere Untersuchungen zeigen:

  1. TikToks automatische Banner, um Inhalte zur Wahl zu kennzeichnen, funktionieren nicht wirkungsvoll. Zahllose Videos werden zu Unrecht gekennzeichnet, einige politische Inhalte widerum nicht.
  2. TikTok hat seine Partnerschaft mit der Deutsche Presseagentur (dpa) zum Faktencheck erst wenige Wochen vor der Wahl unter Dach und Fach gebracht.
  3. Wir haben mehrere Fake-Accounts mit relevanten Zugriffszahlen entdeckt, die den Anschein erwecken, es handle sich hier um zentrale demokratische Institutionen oder Politiker*innen. Diese Accounts verstoßen gegen die von TikTok aufgestellten Community-Richtlinien.

Auf Grundlage dieser Ergebnisse, empfehlen wir TikTok:

  1. Kennzeichnung: Es gilt hier, mehr Ressourcen zu investieren, um sicherzustellen, dass das Kennzeichnen von Videos mit Bezug zur Wahl wirkungsvoll funktioniert.
  2. Faktencheck: Hier muss deutlich früher, deutlich besser mit externen Faktencheck-Teams zusammengearbeitet werden.
  3. Community-Richtlinien: Die Community-Richtlinien müssen nicht nur gelten, sondern auch angewendet werden. Dazu gehört das aktive Monitoren und Untersuchen relevanter politischer Accounts.
  4. Transparenz: TikTok sollte – vor allem während der Vorwahlperiode – gelöschte Inhalte und Accounts transparent machen. Hier braucht es zudem bessere Werkzeuge zum Auswerten der Daten für Wissenschaftler*innen und interessierte Dritte. Denkbar und wünschenswert eine zentrale Programmierschnittstelle (API) bzw. Datenbank, um eine öffentliche Kontrolle zu gewährleisten.
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Einleitung

TikTok ist eine der am schnellsten wachsenden Social-Media-Plattformen der Welt. Allein in Deutschland nutzen nach Angaben der Plattform rund 11 Millionen Nutzer*innen TikTok, rund 13% der gesamten Bevölkerung. Die weltweit am häufigsten heruntergeladene Non-Gaming App 2020 ist integraler Bestandteil der täglichen Mediennutzung ihrer meist jüngeren Nutzer*innen unter 24 geworden. Trotz ihres Rufes, geprägt durch virale Hits und alberne Tänze, haben verschiedene Studien gezeigt, dass politische Gruppen und Inhalte eine starke Präsenz auf der Plattform haben. Das gilt ganz sicher für Deutschland, wo in den letzten Monaten zahlreiche Parteien und Politiker*innen Accounts auf TikTok gestartet haben. Vorherige Untersuchungen von Mozilla haben gezeigt, wie politische Influencer*innen in den USA trotz des Verbots von Wahlwerbung auf der Plattform unerkannt agierten.

In Anbetracht eines abnehmenden Interesses an Parteipolitik in westlichen Demokratien und sinkenden Parteimitgliederzahlen vor allem bei jungen Menschen, wenden sich Parteien neuen sozialen Medien zu, um ihre Beziehung zur Wählerschaft neu zu beleben. Von den sieben Parteien im deutschen Bundestag (wenn man die beiden Unionsparteien CDU und CSU einzeln zählt), haben fünf Fraktionen im August 2021 ein aktives TikTok-Nutzerkonto. Der Politikberater Martin Fuchs zählt in einer öffentlich zugänglichen Liste mehr als 120 individuelle TikTok-Konten deutscher Politiker*innen.

TikTok hat sich in Anbetracht dieses Anstiegs an politischem Interesse auf der Plattform verpflichtet, die anstehende Bundestagswahl zu schützen. Dies umfasst das Kennzeichnen politischer Videos, Faktenchecks und das Durchsetzen eigener Regeln zu Fehlinformationen. Es scheint, als ob TikTok seine Rolle und seinen Einfluss auf die Politik ernst nimmt und Schritte einleitet, um verantwortungsvolle Richtlinien zu entwickeln.

Allerdings bleiben die konkreten Umsetzungen deutlich hinter den angekündigten Versprechen zurück. TikTok hat wieder und wieder versprochen, die eigenen Community-Richtlinien durchzusetzen, um hasserfülltes Verhalten, Ideologie und irreführende und verletzende Inhalte zu verbieten. Aktuelle Recherchen von Journalist*innen und Think Tanks wie dem Institute for Strategic Dialogue (ISD) zeigen auf, wie nicht-markierte Wahlwerbung, negatives Campaigning, Hate Speech und Extremismus auf der Plattform verbreitet werden.

In unserer eigenen Recherche vor der Bundestagswahl haben wir untersucht, ob TikTok seine Richtlinien durchgesetzt und seine Versprechen eingelöst hat. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Bemühungen weder sonderlich erfolgreich, noch besonders umfangreich waren.


TikToks Verpflichtungen und Richtlinien

“Es ist uns sehr wichtig, dass wir unseren Nutzer*innen glaubhafte Informationen rund um Wahlen bereitstellen.” (Quelle: Gunnar Bender, TikTok’s Director Public Policy Deutschland)

Am 20 Juli 2021 stellte TikTok offiziell seine In-App-Informationsseite zur Bundestagswahl vor. Mit der Bereitstellung von Wahlinformationen solle “die Integrität unserer Plattform, auch in Bezug auf politische Wahlen” geschützt werden. TikTok präsentiert in der Pressemitteilung drei zentrale Schritte, um das Ziel zu erreichen: (1) Das Kennzeichnen wahlbezogener Videos; (2) Faktenchecks mit externen Partnern; und (3) das Durchsetzen der eigenen Community-Richtlinien.

Unsere Untersuchung

Um unsere Recherche durchzuführen, haben wir zunächst alle Richtlinien von TikTok, offizielle Statements und die Veröffentlichungen vor der Wahl gesichtet. Nach der Überprüfung verschiedener in Bezug zur Wahl stehender Hashtags haben wir einzelne Accounts und Posts für eine tiefergehende Analyse identifiziert. Interviews und Desktop-Recherchen haben uns weitere Anhaltspunkte geliefert. Wir haben zudem qualitative Methoden wie die Walkthrough Method angewendet, um zu untersuchen, wie Nutzer*innen mit Hashtags, Kennzeichnungen und Nutzerkonten interagieren. Schließlich haben wir uns mit dem datenjournalistischen Team des Bayerischen Rundfunks (BR) und Forschern des Algorithmic Transparency Institute zusammengeschlossen, um ein koordiniertes Vorgehen für weitere quantitative Untersuchungen der Plattform zu entwickeln.

Unsere Recherchen zeigen, dass TikToks Bemühungen vor der Bundestagswahl zu gemischten Ergebnissen führen:

  1. Das automatischen Kennzeichnen von Inhalten zur Bundestagswahl mit Info-Bannern funktioniert nicht wirkungsvoll. Videos werden unpassend markiert.
  2. Die Faktencheck-Partnerschaft mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) wurde erst wenige Wochen vor der Wahl geschlossen.
  3. Wir haben mehrere TikTok-Konten mit relevanten Zugriffszahlen entdeckt, die sich als offizielle Institutionen des politischen Betriebs ausgeben. Die gefälschten Nutzerkonten zeigen, dass die Plattform die eigenen Community-Richtlinien wenige Wochen vor der Wahl nicht umsetzt.


1. TikToks automatisierte Info-Banner zur Wahl sind nicht wirkungsvoll

“Wenn unsere Nutzer*innen auf TikTok nach Inhalten zur Wahl suchen, verweisen wir sie in Form eines Banners auf die Informationsseite. Zudem verlinken wir sie unterhalb von Videos mit Wahlbezug sowie unter Videos von politischen Accounts.” (Quelle: TikTok)

Am 20. Juli entdeckten TikTok-Nutzer*innen in Deutschland etwas Neues auf der Plattform. Auf verschiedenen Videos wurde ein Banner eingeblendet. Darauf: ein Ausrufezeichen und der Satz “Erhalte Infos über die Bundestagswahl in Deutschland“ mit einem Link zu einer Informationsseite über die Bundestagswahl. Diese wurde in Kooperation mit der ARD umgesetzt und beinhaltet Links zu 28 TikTok-Videos (z.B. “So erkennst du Fake News”) und kurze Antworten auf Fragen wie “Darf ich in der Wahlkabine ein Selfie machen?” (Die Antwort lautet übrigens: Nein). Eine ähnliche Informationsseite hatte TikTok im Rahmen der Covid-19 Pandemie aufgesetzt, um Nutzer*innen “überprüfbare, vertrauenswürdige Informationsquellen” zu bieten.

Während sich das Kennzeichnen von politischen Inhalten, vor allem vor einer Wahl, nach einer guten Idee anhört, sind die Ergebnisse bislang nicht besonders überzeugend. Als wir beispielsweise nach dem Hashtag #SPD suchten (mit einem Mobiltelefon und einer deutschen SIM-Karte, genutzt in Deutschland ), hatte keines der ersten neun auf dem mobilen Screen gezeigten Videos einen Bezug zur Sozialdemokratie oder Politik allgemein. Das liegt daran, dass die Abkürzung SPD weltweit nicht nur für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands steht, sondern beispielsweise auch für Sensory Processing Disorder, Schizoid Personality Disorder, Schizotypal Personality oder Sexual Pleasure Device. Ungeachtet dessen blendet TikTok einen Informationstext oberhalb aller Videos zu #SPD ein – „ein paar Erinnerungen beim Erstellen, Anschauen oder Interagieren mit wahlbezogenen Inhalten.”

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Datum des Bildschirmfotos: 31. August 2021

Die Ergebnisse waren ähnlich, als wir nach #FDP suchten. Ungeachtet der Tatsache, dass auch FDP in unterschiedlichen Sprachen und verschiedenen Regionen der Welt verschiedene Dinge meint, darunter beispielsweise ein verbreitetes portugiesisches Schimpfwort, blendet TikTok den deutschen Hinweis oberhalb aller gefundenen Videos mit dem Hashtag #FDP ein.

Natürlich könnte man jetzt argumentieren, dass dieses unterschiedslose Kennzeichen nicht so schlimm ist, solange politische Inhalte eben auch gelabelt werden. Allerdings schwächt ein automatisierter Ansatz, der sich lediglich auf einzelne Schlüsselwörter beschränkt, das gesamte Ziel der Kennzeichnung. Es könnte die Bemühungen, Nutzer*innen zu sensibilisieren und/oder ihnen überprüfbare, vertrauenswürdige Informationsquellen zu bieten, unterminieren.

Außerdem führt das Vertrauen auf einzelne Schlagwörter dazu, dass nicht alle politischen Inhalte gekennzeichnet werden. Sowohl der offizielle Account der Partei Die Linke (@linksfraktion), als auch der offizielle AfD TikTok-Account (@afd.offiziell) werden uneinheitlich gekennzeichnet. Obwohl die allermeisten Videos beider Accounts sich im Vorfeld der Bundestagswahl natürlich auf diese beziehen bzw. politische Inhalte enthält, werden Videos nicht mit dem Info-Banner versehen, wenn sie nicht eines der von TikTok definierten Hashtags beinhalten. Das zeigt deutlich die engen Grenzen des automatisierten Ansatzes der Plattform auf.

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Datum des Bildschirmfotos: 8. September 2021

Unsere Recherchen zeigen, dass TikToks automatisierter Ansatz beim Kennzeichnen von Wahlinhalten nicht verlässlich funktioniert. Dies führt zu weiteren Fragen: Wie genau implementiert TikTok die Label? Hat die Plattform Anstrengungen unternommen, um diese Label zu prüfen oder Fehler zu identifizieren? Die Ergebnisse könnten beispielsweise sehr einfach optimiert werden, indem Videos aussortiert werden, die ergänzende Hashtags (beispielsweise Sensory Processing Disorder) beinhalten oder durch eine zielgerichtetere Anwendung der Kennzeichnung.

Wir empfehlen TikTok, mehr Ressourcen darauf zu verwenden, sicherzustellen, dass das Kennzeichen von wahlbezogenen Videos verlässlicher funktioniert.


2. TikTok hat erst wenige Wochen vor der Wahl mit externen Faktenchecks begonnen

“Ein weiterer Baustein sind unsere globalen Partnerschaften mit Organisationen, die Fakten überprüfen. In Deutschland sind wir beispielsweise mit der ‘dpa’ eine Kooperation zum Faktencheck eingegangen, um gemeinsam daran zu arbeiten, die potentielle Verbreitung von fehlerhaften Informationen auf der Plattform zu begrenzen und die Überprüfung von Fehlinformationen im Zusammenhang mit Wahlen zu gewährleisten.” (Quelle: TikTok)

Vor der Bundestagswahl hat TikTok wiederholt auf seine Zusammenarbeit mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) hingewiesen. Auf TikToks Website ist die dpa als so genannter Sicherheitspartner (safety partner) in Deutschland ausgewiesen, zusammen mit der Agence France-Press (AFP) und anderen, die in verschiedenen Weltregionen tätig sind. TikTok gibt an, dass “Fact-Checking-Partner bei der Überprüfung und Bewertung der Richtigkeit von Inhalten in 55 Märkten helfen.”

Als TikTok seine In-App Informationsseite am 20. Juli startete, wies die Plattform erneut auf die zentrale Rolle der externen Faktenchecker hin, die ein “Baustein” seien, um Misinformation zu bekämpfen: “In Deutschland sind wir beispielsweise mit der ‘dpa’ eine Kooperation zum Faktencheck eingegangen, um gemeinsam daran zu arbeiten, die potentielle Verbreitung von fehlerhaften Informationen auf der Plattform zu begrenzen und die Überprüfung von Fehlinformationen im Zusammenhang mit Wahlen zu gewährleisten.”

Diese Aussage liest sich, als habe die dpa bereits weit vor der Bundestagswahl mit dem Überprüfen von Videos begonnen. Allerdings zeigen unsere Recherchen, dass dem nicht so ist. Bei unserer Nachfrage zu der TikTok-Partnerschaft bei der dpa erzählte uns Jens Petersen, Leiter der Konzernkommunikation, am 13. August, dass die dpa “nicht offiziell von TikTok beauftragt sei, in irgendeiner Form Fakten zu prüfen”. Auf Nachfrage am 7. September sagte Petersen, dass Ende August ein Vertrag abgeschlossen worden sei, der rückwirkend gelte und eine Testphase umfasse.

Faktenchecks können ein erster efektiver Schritt sein, um Fehlinformation auf der Plattform einzudämmen. TikTok hat die Faktencheck-Partnerschaft mit einem etablierten externen Partnern allerdings erst kürzlich besiegelt. Das ist beunruhigend, da Fehlinformationskampagnen zum Beispiel rund um die US-Wahlen 2020 bereits Monate vor dem Wahltag begonnen wurden. Zieht man in Betracht, dass deutsche Wähler*innen schon seit dem 5. September per Briefwahl abstimmen können, bleibt nicht mehr viel Raum, um sinnvoll Faktenchecks vor der Wahl durchzuführen. 2017 nutzten nahezu 30% der deutschen Wähler*innen die Möglichkeit zur Briefwahl. Vermutlich sind die Zahlen 2021 aufgrund von Corona deutlich höher.

Wir empfehlen, dass TikTok Fehlinformationskampagnen ernst nimmt und mit den externen Faktenchecks deutlich früher vor anstehenden Wahlen beginnt.


3. TikTok scheitert beim Durchsetzen der eigenen Community-Richtlinien

“Wir dulden deshalb keine Aktivitäten, welche die Integrität unserer Plattform oder die Authentizität unserer Nutzer*innen untergraben können. Wir entfernen Inhalte oder Konten, die beispielsweise Spam oder gefälschte Interaktionen, die Vortäuschung einer anderen Identität, irreführende und Schaden verursachende Informationen oder Verstöße gegen Rechte des geistigen Eigentums enthalten.” (Quelle: TikTok)

TikToks Community-Richtlinien gelten als Verhaltenskodex für die App. TikTok schreibt vor, dass Nutzer*innenkonten, die wiederholt gegen die Richtlinien verstoßen, von der Plattform verbannt werden. Unsere Recherchen zeigen jedoch ein deutlich anderes Bild.

Gefälschte Konten

Der Deutsche Bundestag betreibt eine Internetseite und einige Social-Media-Accounts. Es gibt einen offiziellen YouTube-Kanal mit 71,3K Abonnent*innen. Einen offiziellen Twitter-Account mit 12,4K Followern. Und dann gibt es offenbar noch einen TikTok Account (@derbundestag) mit 14,1K Followern und 130,8K Likes. Das Problem hier ist, dass der Bundestag keinen TikTok-Account eingerichtet hat. Als wir am 18. August bei der Pressestelle des Bundestages nachfragten, bekamen wir eine klare Antwort: “Bei den Social-Media-Accounts haben wir nur YouTube und Twitter.”

TikToks Community-Richtlinien verbieten Belästigung, Mobbing und Hassreden. Sie untersagen ebenfalls, sich auf betrügerische Weise als eine andere Person oder Organisation auszugeben. TikTok ist hier sehr deutlich: “Nicht erlaubt ist: Das Posing als andere Person oder Organisation – das Vortäuschen der Identität einer anderen Person oder Organisation insbesondere durch die irreführende Verwendung des Namens, der biografischen Angaben oder des Profilbilds einer anderen Person oder Organisation.” Es gibt Ausnahmen für Fan-, Kommentar- oder Parodie-Konten, “solange die Nutzer*innen in den biographischen Profil-Angaben („Bio“) und im Nutzer*innennamen angeben, dass es sich um ein Fan-, Kommentar- oder Parodie-Konto handelt und keine Verbindung zu dem betreffenden Subjekt besteht.”

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Datum des Bildschirmfotos: 8. September 2021

Dies ist hier nicht der Fall. Bei dem vorliegenden Account @derbundestag handelt es sich nicht um ein Fan-, Kommentar- oder Parodie-Konto. Unsere Untersuchungen zeigen, dass der Account verwendet wird, um politische Propaganda zu verbreiten.

Mehrere Details verstärken die Illusion, es handle sich hier um einen offiziellen Account des Deutschen Bundestages. Zunächst die Beschreibung des Accounts: “Deutscher Bundestag / Parlamentarische Sommerpause bis 07.09.” und ein Link zur offiziellen Website des Bundestages. Dann die verhältnismäßig hohen Zahlen bei den Followers und Likes: 14,1K Followers und 130,8K Likes. Zur besseren Einordnung: Das sind etwa 0,13% aller deutschen TikTok Nutzer oder mehr als 1 in 1.000 deutscher TikTok Nutzer*innen. Zudem hat der Account mehr Follower als der offizielle Twitteraccount des Bundestages.

Bei den meisten Videos die der Account gepostet hat, handelt es sich um parlamentarische Reden. Bekannte Gesichter des aktuellen politischen Betriebs wie die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel oder die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Claudia Roth tauchen hier auf. Viele der Videoclips scheinen vom Parlamentsfernsehen zu stammen, ein öffentlicher Service des Bundestages, der Livestreams und On-Demand-Angebote zu parlamentarischen Debatten bereithält. Das Parlamentsfernsehen stellt “sein gesamtes Bildmaterial kostenlos und frei von Rechten Dritten zur Verfügung. Voraussetzung dafür ist, dass die Bilder für Produktionen im Bildungsbereich oder kostenfrei angebotene Informationssendungen verwandt werden.”

Unsere Analyse des Accounts zeigt, dass AfD-Politiker*innen und deren Botschaften prominent gefeatured werden. Die AfD, Alternative für Deutschland, ist eine rechtspopulistische und rechtsextreme politische Partei, die gegenwärtig 86 der 709 Sitze im deutschen Parlament besetzt. 2017 ist sie das erste Mal in den Bundestag eingezogen. Von 77 Videos, die der Account @derbundestag zwischen dem 7. April und dem 10. August gepostet hat, haben 42 (55%) eine/n AfD-Politiker*in als Hauptredner*in. Bei 18% der Videos findet sich ein/e Politiker*in der CDU, 10% beinhalten einen Politiker*in der Partei Die Linke, 9% SPD, 5% FDP und 5% Bündnis 90/Die Grünen. Einige Videos zeigen mehrere Politiker*innen. Einige Videos zeigen Politiker*innen, die nicht der AfD angehören, aber auf Themen reagieren, die von Vertrer*innen der AfD ausgehen. Nur zwölf Videos von 77 haben keinen direkten und klar identifizierbaren Zusammenhang zur AfD. Zum besseren Verständnis: Die AfD hält derzeit 12,6% der Sitze im Parlament. Wenn es sich hier um einen offiziellen Account des Deutschen Bundestages handeln würde, ginge man sicherlich von einer deutlich ausbalancierteren Verteilung der Redebeiträge aus.

Wir heben diesen Account nicht hervor, um geäußerten politischen Meinungen und Haltungen zuzustimmen oder um diese zu verurteilen. Zudem wissen wir nicht, wer für den Account verantwortlich ist. Der Account zeigt aber deutlich, dass TikTok seine eigenen Regeln nicht durchsetzt, indem es Accounts nicht löscht, die sich wiederholt als eine “andere Person oder Organisation” ausgeben.

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Datum des Bildschirmfotos: 26. Juli 2021

Ergänzend zum Account @derbundestag haben wir weitere gefälschte Nutzer*innenkonten identifiziert. Diese wurden inzwischen von TikTok gelöscht. Einer dieser Accounts (@frank.walter.steinmeier), den wir am 26. Juli entdeckten, gab vor, der Account des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zu sein. Mit mehr als 3.000 Followern und 72,3K Likes hatte der Account eine deutlich höhere Reichweite als andere einfach zu identifizierende Fake-Accounts (@frankwaltersteinmaier, @federalgermanpresident, @frankwaltersteinmeier88) mit sehr wenigen Followern. Der Account @frank.walter.steinmeier postete Videos, die das deutsche Militär verherrlichen und offenbar zum Teil von der Firma BTB stammen, die sich unter anderem auf das Filmen militärischer Veranstaltungen spezialisiert hat. TikTok hat diesen Account inzwischen gelöscht. Es bleibt aber unklar, wie lange der Account online war, wer ihn betrieben hat und welche Auswirkungen er auf deutsche TikTok-Nutzer*innen hatte.

Unabhängig davon, wer hinter diesen Accounts steckt und was die jeweiligen Motive sein mögen, handelt es sich ganz offenbar um Accounts, die gegen TikToks Community-Richtlinien verstoßen. Diese verbieten das Vortäuschen der Identität einer anderen Person oder Organisation insbesondere durch die irreführende Verwendung des Namens, der biografischen Angaben oder des Profilbilds einer anderen Person oder Organisation. Die Tatsache, dass gefälschte, politisch-motivierte Accounts weiter auf der Plattform existieren und im Vorfeld der Bundestagswahl tausende von Followern und Likes ansammeln, zeigen, dass TikTok seine eigenen Community-Richtlinien nicht durchsetzt. Eine einfache Suche nach den Namen bekannter Politiker*innen und politischer Institutionen hätten dabei geholfen, diese Fake Accounts aufzuspüren und zu beseitigen.

Wir empfehlen TikTok, umgehend Maßnahmen zu ergreifen, um die eigenen Community-Richtlinien noch vor der Bundestagswahl durchzusetzen. Dies beinhaltet eine gründliche und laufende Überprüfung der Accounts politischer Parteien, Politiker*innen und politischer Institutionen, um deren Authentizität zu gewährleisten.


Fazit und Empfehlungen

Unsere Untersuchungen zeigen, dass TikToks Bemühungen, Nutzer*innen vor der Bundestagswahl glaubhafte Informationen bereitzustellen und die Integrität der Plattform in Bezug auf politische Wahlen zu schützen, hinter den Ankündigen zurückbleiben. Es klafft eine klare Lücke zwischen Bestrebungen und der Durchsetzung dieser Bestrebungen. Die verkündete Partnerschaft mit externen Faktencheckern in Deutschland wurde erst wenige Tage vor Beginn der Briefwahl offiziell begonnen. Und es gibt sehr offensichtlich gefälschte Accounts auf der Plattform, die unter anderem im Namen einer zentralen politischen Institution politische Botschaften verbreiten.

Ein Statement von Gunnar Bender, TikToks Director Public Policy Deutschland, gibt Aufschluss über die mögliche Ursache des Problems: “TikTok ist nicht die erste Adresse für politische Debatten und aktuelle Nachrichten.” Unsere Untersuchungen zeigen jedoch, dass TikTok den politischen Diskurs mitgestaltet und beeinflusst, vor allem weil zunehmend politische Gruppen die Plattform nutzen. In Anbetracht unserer Ergebnisse empfehlen wir TikTok:

  1. Kennzeichnung: Es gilt hier, mehr Ressourcen zu investieren, um sicherzustellen, dass das Kennzeichnen von Videos mit Bezug zur Wahl wirkungsvoll funktioniert.
  2. Faktencheck: Hier muss deutlich früher, deutlich besser mit externen Faktencheck-Teams zusammengearbeitet werden.
  3. Community-Richtlinien: Die Community-Richtlinien müssen nicht nur gelten, sondern auch angewendet werden. Dazu gehört das aktive Monitoren und Untersuchen relevanter politischer Accounts.
  4. Transparenz: TikTok sollte – vor allem während der Vorwahlperiode – gelöschte Inhalte und Accounts transparent machen. Hier braucht es zudem bessere Werkzeuge zum Auswerten der Daten für Wissenschaftler*innen und interessierte Dritte. Denkbar und wünschenswert ist eine zentrale Programmierschnittstelle (API) bzw. Datenbank, um eine öffentliche Kontrolle zu gewährleisten.

Als Unterzeichner des EU-Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation hat TikTok sich öffentlich verpflichtet, konkret gegen Desinformation vorzugehen (Disclaimer: Mozilla ist ebenfalls Unterzeichner des Kodex). Vor der Anpassung des Codes im Herbst 2021 bitten wir TikTok, verbundene Unterzeichner und politische Entscheidungsträger, unsere Untersuchung einzubeziehen. Wir fordern TikTok dringend auf, unsere Empfehlungen zu berücksichtigen, um vor Schäden und Missbrauch auf der Plattform zu schützen, insbesondere vor Wahlen weltweit. Angesichts der bevorstehenden Wahlen in Kenia und Brasilien im Jahr 2022 und der Tatsache, dass so viel auf dem Spiel steht, muss TikTok in verbesserte Strategien, Tools und Prozesse investieren.

Die Mozilla Foundation ist eine überparteiliche gemeinnützige Organisation, die gegen Fehlinformationen und mangelnde Transparenz in politischen und wahlbezogenen Nachrichtenübermittlungen kämpft. Sie bevorzugt oder lehnt bestimmte Kandidaten oder Parteien bei Wahlen nicht ab und alle Kommentare, die sie über den Umgang von Social-Media-Plattformen mit bestimmten wahlbezogenen Nachrichten oder Rednern macht, sollten nicht als Unterstützung oder Ablehnung dieser Nachrichten oder Redner selbst aufgefasst werden. Wähler*innen sollten bei ihrer Wahlentscheidung eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigen, die nicht von der Arbeit der Stiftung angesprochen werden.

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Literaturliste

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